Die Angst des Wassers vor dem Fall

Im Brugger General-Anzeiger erschien am 31.7.2013 meine Kolumne:

Lieber Wasserfall

Du bist sehr mutig!
Ich stand an deinem Fuss, sah dich herunterstürzen und war tief beeindruckt!
Was musstest du, was musste jeder einzelne deiner Tropfen alles loslassen vor und in diesem Sturz:

das ganze bisherige Leben
die dunkle Stille in der Tiefe des Gesteins
das Aufspüren von Spalten und Rissen und
das Sammeln zum ersten kleinen Rinnsal
die Suche nach dem Weg vom Berg herab und dann
das friedliche Dahinplätschern durch Wiesen und Wälder und über moosige Erde, gemächlich und beschaulich
auf sicherem vorgegebenem Weg
die Wärme der Sonne auf der Haut
das Spiel mit den Forellen
und später, zum Fluss angewachsen,
das Bewusstsein der Kraft und Macht
zu nähren und zu zerstören.

Jetzt stehst du vor dem Abgrund, und nichts ist mehr wie vorher.
Du weisst nicht, was dich nach dem Sturz erwartet - vielleicht das Ende?

Und du hast ja nicht einmal eine Wahl.
Der Sturz ist deine Bestimmung.
Wird es einfacher dadurch oder schwerer?
Haderst du mit diesem Schicksal?

Wie ist es denn bei uns Menschen?
Manchmal haben wir die Wahl zu springen oder nicht. Wenn wir es tun, wissen wir hernach, wohin wir gesprungen sind. Springen wir nicht, werden wir es nie erfahren.
Was ist besser?

Gibt es überhaupt ein „besser“?
Sind nicht unsere Entscheidungen so oder so richtig, ob es nun mutige oder mutlose sind? Bekommen wir nicht immer wieder die Gelegenheit zu einem neuen Versuch, bis wir den Absprung geschafft haben?

Du hast ihn geschafft, bist durch die Hölle der Ungewissheit gegangen, hast die Angst mitgenommen und bist in die Tiefe gestürzt.

Vielleicht hast du vor dem Aufprall einen Hauch des Jenseits geahnt. Aber die Tiefe hat dich aufgenommen wie ein Mutterschoss. Und dann hat sie dich wieder losgelassen, damit du deinen Weg weiterfliessen kannst.

Ich gratuliere dir dazu. Jetzt weisst du, dass es weitergeht.

Ja, wenn wir darauf vertrauen könnten!