Im Brugger General-Anzeiger erschien am 17. 11. 16 meine Kolumne


                                                 Der Lichtfresser
 

„Du darfst den Mund nicht ständig offen lassen“, mahnte das Herbstlicht, „sonst wird es vorzeitig dunkel.“ Der Lichtfresser schaute fragend. „Ja, die Menschen sind an bestimmte Zeiten gewöhnt“, fuhr das Herbstlicht fort. „Sie richten sich danach aus, arbeiten, so lange es hell ist, und gehen schlafen, wenn es dunkel wird. Wenn du aber den Mund nicht zwischendurch schliesst, kommen sie mit dem Rhythmus nicht mehr zurande.“ „Aber ich habe Hunger“, wandte der Lichtfresser ein. „Gedulde dich bis zum Winter, dann kannst du früher mit Fressen beginnen.“

Der Lichtfresser war frustriert und maulte. Aber immerhin schloss er doch den Mund und beschloss, sich zu fügen und die Dämmerung abzuwarten.

Das Herbstlicht indessen nützte die verbliebene Zeit, um bis in die letzten Ritzen der Ahorn-, Buchen- und Eichenblätter vorzudringen, so dass die Bäume leuchteten und strahlten, als hätte man tausend farbige Lämpchen in ihren Aesten angezündet.

Der Lichtfresser sah es mit Unmut. Er war dieser Intensität der Farben und des Lichts einfach nicht gewachsen. Bis zur Dämmerung zu warten, kam nicht in Frage, beschloss er. Also begann er, Nebelschwaden zu produzieren – nur leichte Streifen zuerst, die sanft an den Aesten der Bäume hängen blieben und den Boden in eine weiche, graue Masse verwandelten.

Er seufzte wohlig, bevor er wieder den Mund öffnete und sich nun Lichtstrahl um Lichtstrahl einverleibte. Der Protest des Herbstlichtes ging im dichter werdenden Nebel unter.

Der Lichtfresser grunzte zufrieden. Er hatte sich satt gefressen und ruhte sich nun aus in der wohlig-weichen Nebeldecke.

Eine Windbö weckte ihn aus seinen Träumen. Der Nebel war weg. Der Wind hatte ihn vertrieben. Schnell schloss er die Augen wieder vor der Intensität des Lichts, das auf ihn einströmte. Das Herbstlicht strahlte ihn an und wärmte seine Glieder. Mit freundlicher Stimme fragte es: „Hast du gut geschlafen?“