Das
Lächeln einer Fremden
Sie sitzt
mir im Zug vis-à-vis. Wir reisen gemeinsam Richtung Chur. Mein
Reiseziel ist der Besuch meiner Enkel. Ihr Reiseziel kenne ich nicht.
Ich
betrachte sie verstohlen, aber sehr interessiert: Eine ältere
„Dame“, der dieses etwas antiquierte Wort gut ansteht. Sie
verhält sich ganz ruhig, sitzt gerade und doch entspannt in ihrem
Sitz und betrachtet scheinbar die Landschaft. Vielleicht sieht sie
wie ich den tiefblauen See und die letzten Nebelschwaden, die darüber
liegen. Vielleicht ist sie aber auch in Gedanken versunken, die sich
ganz in ihrem Inneren abspielen und sich nicht spiegeln auf ihrem
Gesicht.
Sie fiel
mir sofort auf, als ich den Waggon betrat, und es zog mich magisch in
ihre Nähe. Ihre Erscheinung faszinierte mich.
Aus dem
Gesicht leuchtet eine innere Schönheit, die das Alter nicht
zerstören kann. Die Augen sind von einem tiefen Blau und blicken
klar und ruhig. Um den Mund spielt ein kaum wahrnehmbares Lächeln,
das für mich ausdrückt, dass diese Frau „Ja“ sagt zu ihrem
Leben, zu sich selbst.
Und dann
ist da noch die dezente, elegante Kleidung, die sie umhüllt wie eine
zweite Haut und zu ihr passt, als sei sie nur für sie gemacht: Ein
feiner Pullover, der das Blau ihrer Augen aufnimmt, ein Jupe aus
edlem Wollstoff, in dem sich das Blau des Pullovers als feiner
Nadelstreifen wiederholt, und an den Füssen zierliche schwarze
Lackschuhe, die einen ebenso zierlichen Fuss umschliessen.
Ich kann
den Blick nicht von ihr wenden, wünschte mir, mehr von dieser Frau
zu erfahren. Was hätte sie mir zu sagen? Was könnte uns verbinden?
Da wendet
sie den Kopf vom Fenster ab und schaut mich an, mit diesem ruhigen,
freundlichen Blick. Und dann lächelt sie. Und ich lächle zurück,
und die Verbindung ist hergestellt ohne ein einziges Wort.
So zeigt
sich manchmal das kleine Glück in der Begegnung mit einer verwandten
Seele.