Im Brugger General-Anzeiger erschien am 9. 3. 17 meine Kolumne


Das Lächeln einer Fremden


Sie sitzt mir im Zug vis-à-vis. Wir reisen gemeinsam Richtung Chur. Mein Reiseziel ist der Besuch meiner Enkel. Ihr Reiseziel kenne ich nicht.

Ich betrachte sie verstohlen, aber sehr interessiert: Eine ältere „Dame“, der dieses etwas antiquierte Wort gut ansteht. Sie verhält sich ganz ruhig, sitzt gerade und doch entspannt in ihrem Sitz und betrachtet scheinbar die Landschaft. Vielleicht sieht sie wie ich den tiefblauen See und die letzten Nebelschwaden, die darüber liegen. Vielleicht ist sie aber auch in Gedanken versunken, die sich ganz in ihrem Inneren abspielen und sich nicht spiegeln auf ihrem Gesicht.

Sie fiel mir sofort auf, als ich den Waggon betrat, und es zog mich magisch in ihre Nähe. Ihre Erscheinung faszinierte mich.

Aus dem Gesicht leuchtet eine innere Schönheit, die das Alter nicht zerstören kann. Die Augen sind von einem tiefen Blau und blicken klar und ruhig. Um den Mund spielt ein kaum wahrnehmbares Lächeln, das für mich ausdrückt, dass diese Frau „Ja“ sagt zu ihrem Leben, zu sich selbst.

Und dann ist da noch die dezente, elegante Kleidung, die sie umhüllt wie eine zweite Haut und zu ihr passt, als sei sie nur für sie gemacht: Ein feiner Pullover, der das Blau ihrer Augen aufnimmt, ein Jupe aus edlem Wollstoff, in dem sich das Blau des Pullovers als feiner Nadelstreifen wiederholt, und an den Füssen zierliche schwarze Lackschuhe, die einen ebenso zierlichen Fuss umschliessen.

Ich kann den Blick nicht von ihr wenden, wünschte mir, mehr von dieser Frau zu erfahren. Was hätte sie mir zu sagen? Was könnte uns verbinden?

Da wendet sie den Kopf vom Fenster ab und schaut mich an, mit diesem ruhigen, freundlichen Blick. Und dann lächelt sie. Und ich lächle zurück, und die Verbindung ist hergestellt ohne ein einziges Wort.

So zeigt sich manchmal das kleine Glück in der Begegnung mit einer verwandten Seele.