Postkartengrüsse

Im Brugger General-Anzeiger erschien am 6. 8. 15 meine Kolumne:

 Postkartengrüsse

Wie immer nahm sie sich vor, ihren zahlreichen Freunden aus den Ferien eine Karte zu schreiben. Nur: Was sollte sie diesmal schreiben?

Entspannungsferien hatte sie machen wollen auf dieser Insel, tagsüber am Strand liegen, am Abend gut essen, ein Glas Wein trinken und in der Nacht den Wellen lauschen und dann zufrieden einschlafen.

Nichts davon hatte sich erfüllt. Es regnete hier seit Tagen, und, anstatt am Strand zu liegen, musste sie sich mit einem Buch in ihrem Hotelzimmer verkriechen. Zu Hause wäre es jetzt gemütlicher!

Es gab nur ein einziges Restaurant hier im Dorf, und dort war der Kellner unmotiviert, das Essen zu fettig und der Wein sauer.

Und die Nächte? Statt der Meeresbrandung hörte sie aus der Hotelküche unter ihrem Zimmer Geschirrgeklapper und das Geplapper der Köche, und wenn sie das Fenster öffnete, erfüllten die Küchengerüche ihr Zimmer.

Sie seufzte, dann gab sie sich einen Ruck und entwarf folgenden Kartentext:

Liebe ...

Ich bin gut auf dieser wunderschönen Insel angekommen. Es duftet hier nach all den herrlichen Blumen. Ich liege am feinen Sandstrand in der Sonne und geniesse das Dolce far niente.

Herzliche Grüsse, Angela

Sie atmete auf. 15 Karten waren zu schreiben - reine Fleissarbeit.

Als sie bei Karte 9 angekommen war, stand plötzlich ein Hotelgast neben ihr, der ihr im Speisesaal schon aufgefallen war, weil er wie sie alleine an einem Tisch sass. Sie hatte sich gefragt, was er wohl über sie dachte: Dass sie keinen abgekriegt hatte? Dass sie wohl geschieden sei? Dass sie auf Männersuche sei hier auf der Insel?

Sie hatte sich über ihn kurz dasselbe gefragt. Aber sie wusste: Ob es stimmte oder nicht - ein Leben liess sich nicht in drei Sätzen abhandeln.

"Störe ich Sie?" fragte er nun lächelnd und deutete auf ihren Postkarten-Stapel. "Nein, nein, das ist nur Arbeitsbeschaffung", lachte sie. „Darf ich Sie zu einem Drink einladen? Viel mehr kann man ja nicht machen bei diesem Wetter", schlug er vor. Sie musste nicht lange überlegen. "Gerne", lächelte sie, packte ihre Postkartenbeige zusammen und ging mit ihm Richtung Bar davon.

Dabei dachte sie: "Schade, habe ich schon den grössten Teil der Karten geschrieben."