Der Zeitgeistwidersetzer

Im Brugger General-Anzeiger erschien am 4. 6. 15 meine Kolumne:

 Der Zeitgeistwidersetzer

Er sitzt! In der U-Bahn! Das ist ein Glücksfall!

Immer mehr Menschen drängen sich in den Zug. Bald wird es so eng, dass die Passagier-Schieber mit ihren weiss behandschuhten Händen die Menschenmassen in den Zug hineinschieben müssen.

Mit leerem Blick und müdem Gesicht starren die Menschen im Schein der unbarmherzigen Neonbeleuchtung vor sich hin. Manche dröhnen sich mit Musik zu. Andere versuchen, im Stehen die Zeitung zu lesen. Manche schlafen und erwachen nur an den Stationen, wenn Bewegung in die Massen kommt.

Er aber sitzt auf seinem Platz, lässt seine Augen über die Menschen wandern und lächelt. Es genügen ihm dafür Kleinigkeiten: Zwei Kinder, die einander den Schulstoff abfragen, der schlafende Mann, dessen Kopf regelmässig auf die Schulter seines Nachbarn fällt, und sogar die pflichtbewussten Passagier-Schieber.

An seinem Ziel angekommen, betritt er einen grossen Platz, der umgeben ist von Hochhäusern. Hier blinkt und glitzert es, und der Platz ist erfüllt von Menschen, Autos und einschmeichelnder Lautsprecher-Musik.

Der Mann wendet sich einem kleinen Park zu und setzt sich auf die Bank unter dem nun blühenden Kirschbaum. Er atmet tief den Duft der Kirschblüten ein. Dann legt er den Kopf in den Nacken und verliert sich mit seinem Blick in den rosaroten Blüten und dem blauen Himmel mit den vereinzelten langsam ziehenden weissen Wolken dahinter.

Plötzlich landet eine Krähe vor seinen Füssen. „Da bist du ja“, lächelt der Mann und öffnet sogleich seine Aktentasche. Die Krähe fliegt auf seinen Schoss und trippelt unruhig hin und her. „Sei nicht so ungeduldig, du bekommst es ja“, sagt der Mann und hält der Krähe die offene Hand mit den Brotstückchen hin. Die Krähe pickt diese geschickt auf.

Danach steht der Mann auf, schliesst die Aktentasche und macht sich gemächlich auf den Weg zur Arbeit.