Die Bank unter der Linde

Im Brugger General-Anzeiger erschien am 12. 11. 15 meine Kolumne

Die Bank unter der Linde

Früher stand diese Linde auf dem Dorfplatz, und auf der Bank darunter trafen sich die Dorfbewohner in den Momenten der Musse. Man kannte sich, tauschte Neuigkeiten aus, beklagte vielleicht die Mühen des Alltags, die Aelteren ihre Schmerzen und Gebrechen, und die Jungen schmiedeten Pläne für die Zukunft.

In manchen Dörfern gibt es sie noch heute, die Linde mit der Bank darunter, und immer, wenn ich auf eine treffe, setze ich mich unter sie und träume ein bisschen. Am schönsten ist es im Juni, wenn die Lindenblüten ihren betörenden Duft verströmen.

Diese Linde mit der Bank darunter fehlt uns heute. Wir sitzen im Kino, in Cafés, Restaurants, vielleicht sogar auf einer Bank, aber immer suchen wir uns einen einsamen Platz und ein leeres Bänkchen. Und wenn wir kommunizieren wollen, holen wir das Handy aus der Tasche und reden ins Leere.

Manchmal wünsche ich mir eine kleine Katastrophe herbei, die uns - wenigstens für kurze Zeit – das kostbare Gefühl des Zusammengehörens wieder fühlen lässt.

Zum Beispiel: Es ist Winter. Wir stehen an der Bushaltestelle, aber der Bus kommt nicht. Wir warten. Was können wir tun? Da sind neben uns die anderen Wartenden, und wir hören, welche Gedanken sie sich über das Ausbleiben des Busses machen, warum es für jeden einzelnen so wichtig wäre, dass der Bus endlich kommt. Unerwartet und ungewollt sitzen wir plötzlich alle im gleichen Boot.

Vielleicht sind die Strassen vereist, und der Bus ist im Stau steckengeblieben. Wenn er dann endlich kommt, sind wir so erleichtert, dass wir dieses Gefühl mit den anderen teilen. Wir kommen uns näher!

Endlich heil am Ziel angekommen, verabschieden wir uns von den Mitreisenden wie von vertrauten Nachbarn. Wir fühlen uns gut und fragen uns vielleicht erstaunt, warum. Es war doch ein grosses Aergernis, das uns widerfahren ist. Oder etwa nicht?