Zu
spät
Da
ist er! Ich kann es noch immer nicht fassen. Wie ich ihn vermisst
habe – monatelang! Wie ich ihn gesucht habe – an allen möglichen
und unmöglichen Orten! Und nun, da ich das Suchen aufgegeben habe –
soll er plötzlich wieder da sein, einfach so, vom Himmel gefallen
oder durch einen Spuk wieder auferstanden, von Geisterhand genommen
und zurückgebracht? Wer spielt da ein Spiel mit mir und warum? Wem
kann er etwas bedeuten ausser mir?
So
viele Jahre lebten wir zusammen. So vieles haben wir miteinander
erlebt – Schönes und weniger Schönes. Wer konnte davon wissen,
wer mir das missgönnen?
Zugegeben:
Die schönen gemeinsamen Stunden haben überwogen: die durchtanzten
Nächte, die kulinarischen Höhenflüge im „Löwen“, die
Spaziergänge mit Max, die Konzertbesuche! Ach, überhaupt all diese
glanzvollen Momente, die untrennbar mit ihm verbunden sind.
Und
nun ist er also plötzlich wieder da. Ist er es wirklich? Ich reibe
mir den Schlaf aus den Augen und betrachte ihn kritisch. Er ist mir
fremd geworden. Zu lange die Zeit, in der ich ihn nicht mehr gesehen
habe. Schön ist er, ja! Aber in mir regt sich kein Gefühl.
Höchstens ein Bedauern; denn auch wenn er es ist: er kommt zu spät.
Ich habe mich mit dem Verlust abgefunden, habe das, was von ihm
übriggeblieben ist, aus meinem Gesichtsfeld entfernt, wollte nicht
mehr daran erinnert werden. Und: Ich habe mich anderweitig getröstet
– mit Erfolg. Noch ist diese Beziehung neu, und wir müssen uns
erst aneinander gewöhnen. Aber ich bin zuversichtlich, dass es
gelingen wird. Der erste gemeinsame Tanzabend war vielversprechend.
Gut,
ich stehe jetzt auf und bereite den sentimentalen Erinnerungen ein
Ende. Ich nehme ihn in die Hand, schnuppere kurz an ihm – ja, merke
ich leicht irritiert, er ist es tatsächlich – und bringe ihn zum
Kehrichtsack. Vorbei! Ein letztes Seufzen. Aber schliesslich ist er
nichts weiter als - ein Schuh.
Helga
Starcevic