Kolumne am 31. 7. 19 in der "Rundschau", Baden, und im "General-Anzeiger", Brugg


Zu spät


Da ist er! Ich kann es noch immer nicht fassen. Wie ich ihn vermisst habe – monatelang! Wie ich ihn gesucht habe – an allen möglichen und unmöglichen Orten! Und nun, da ich das Suchen aufgegeben habe – soll er plötzlich wieder da sein, einfach so, vom Himmel gefallen oder durch einen Spuk wieder auferstanden, von Geisterhand genommen und zurückgebracht? Wer spielt da ein Spiel mit mir und warum? Wem kann er etwas bedeuten ausser mir?

So viele Jahre lebten wir zusammen. So vieles haben wir miteinander erlebt – Schönes und weniger Schönes. Wer konnte davon wissen, wer mir das missgönnen?

Zugegeben: Die schönen gemeinsamen Stunden haben überwogen: die durchtanzten Nächte, die kulinarischen Höhenflüge im „Löwen“, die Spaziergänge mit Max, die Konzertbesuche! Ach, überhaupt all diese glanzvollen Momente, die untrennbar mit ihm verbunden sind.

Und nun ist er also plötzlich wieder da. Ist er es wirklich? Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und betrachte ihn kritisch. Er ist mir fremd geworden. Zu lange die Zeit, in der ich ihn nicht mehr gesehen habe. Schön ist er, ja! Aber in mir regt sich kein Gefühl. Höchstens ein Bedauern; denn auch wenn er es ist: er kommt zu spät. Ich habe mich mit dem Verlust abgefunden, habe das, was von ihm übriggeblieben ist, aus meinem Gesichtsfeld entfernt, wollte nicht mehr daran erinnert werden. Und: Ich habe mich anderweitig getröstet – mit Erfolg. Noch ist diese Beziehung neu, und wir müssen uns erst aneinander gewöhnen. Aber ich bin zuversichtlich, dass es gelingen wird. Der erste gemeinsame Tanzabend war vielversprechend.

Gut, ich stehe jetzt auf und bereite den sentimentalen Erinnerungen ein Ende. Ich nehme ihn in die Hand, schnuppere kurz an ihm – ja, merke ich leicht irritiert, er ist es tatsächlich – und bringe ihn zum Kehrichtsack. Vorbei! Ein letztes Seufzen. Aber schliesslich ist er nichts weiter als - ein Schuh.


Helga Starcevic