Kolumne am 2. August 2018 im Brugger General-Anzeiger:
 
Auf dem Sprung


Der Knabe sass am Beckenrand und liess die Beine ins Wasser baumeln. Seit zwei Stunden sass er so. Sein Rücken hatte sich rot verfärbt, aber er spürte es nicht – noch nicht.

Er beobachtete das Treiben im Wasser und blickte immer wieder zum Sprungturm hinauf. Dort oben tummelten sich die Königinnen und Könige des Wassers, um sich irgendwann aus fünf Metern Höhe ins Bassin zu stürzen.

Der Mann, der auf der Wiese in der Nähe des Beckens lag, richtete sich auf und tastete nach der Zigarettenschachtel. Er seufzte. Es nützte nichts: Er konnte sich nicht entspannen. Zu gross war die Angst vor dem, was ihm bevorstand. Er würde seine Arbeitsstelle verlieren und sah keine Möglichkeit, an einem neuen Ort Fuss zu fassen. Es sei denn, er würde sich selbstständig machen. Aber dazu fehlte ihm der Mut.

Er sog gierig an seiner Zigarette und liess den Blick schweifen. Dabei entdeckte er den halbwüchsigen Jungen am Beckenrand. Sofort tauchten Bilder aus seiner eigenen Jugendzeit auf. Auch er hatte seine Zeit im Schwimmbad mehr am Beckenrand zugebracht als im Wasser. Er war ängstlich gewesen – schon damals, und hatte die anderen um ihr fröhliches Treiben beneidet. Am meisten aber hatte er die „Stars“ beneidet, die sich getraut hatten, vom Sprungbrett zu springen.

Er erinnerte sich an seinen Vater, der ihn immer wieder in Situationen gedrängt hatte, die seinen Mut hätten fördern sollen. Stattdessen wurde er immer ängstlicher – und sein Vater immer enttäuschter. Irgendwann liess er ihn fallen und wandte sich seiner Tochter zu.

Auch dieser Knabe war zum Verlierer bestimmt. Andere würden sein Leben formen, nicht er selbst.

Da plötzlich erhob sich der Knabe und ging zögernd zur Treppe, die zum Sprungturm führte. Mit beiden Händen hielt er sich am Geländer fest. Oben angekommen, schloss er die Augen und sprang.

Der Mann stand abrupt auf und eilte zum Beckenrand. Er starrte auf den Punkt, wo der Knabe verschwunden war. Ein paar Sekunden verstrichen, da tauchte er auf, prustend und blinzelnd. Aber sein Gesicht war ein einziges Strahlen.