Kolumne am 22. März im Brugger General-Anzeiger:
 
Schleier-Haft


Sie sitzt mir vis-à-vis und hat die Augen gesenkt.

Die Fahrt nach Bern dauert eine Stunde ohne Zwischenhalt. Ich starre die Frau immer wieder heimlich an und mache mir meine Gedanken über sie.

Wohin sie wohl unterwegs ist ohne männliche Begleitung? Vielleicht zu Verwandten? Eine Touristin kann sie ja nicht sein. Alleine in einem – zumal westlichen – Land unterwegs zu sein, ist sicher ein Tabu, ebenso wie das Autofahren und das Entblössen nur schon der Haare.

Jetzt streicht sie sich mit einer Hand über das Gesicht, und dabei sehe ich, dass ihre Fingernägel rot lackiert sind. Also legt sie offenbar Wert auf ihr Aeusseres, obwohl sie sich der Oeffentlichkeit nur in diesem schwarzen Umhang zeigt. Ich sehe auch, dass sie die schönen dunklen Augen geschminkt hat. Vielleicht hat sich ihr Mann in diese Augen verliebt. Mehr konnte er vor der Hochzeit ja nicht sehen von ihr. Und dann war die Falle zugeschnappt.

Aber andererseits: Sie hatte ja wohl nicht einmal eine Wahl, musste den Mann nehmen, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Scheidung gibt es ja in diesen arabischen Ländern nicht – zumindest nicht vonseiten der Frau.


Ich würde mich nie in schwarze Tücher hüllen wollen, denke ich, wo doch die Welt so farbig ist!

... Oder? ...

Fast eine Stunde sitzt mir diese Fremde praktisch regungslos gegenüber. Sie wirkt dabei ganz ruhig und entspannt. Liegt das an ihrer Verschleierung? Bedeutet die Verhüllung vielleicht für sie nicht Einschränkung sondern Freiheit? Könnte eine Burka mich vielleicht auch irgendwie befreien? Von dem Zwang, gut aussehen zu müssen, eine bestimmte Position zu markieren, im Wettbewerb zu bestehen, mich anzupassen? Das macht zeitweise auch einsam, seufze ich innerlich.

Die Frau hebt den Blick und lächelt mich an. Der Zug hält. Gemessenen Schrittes geht sie vor mir her zum Ausgang. Dann höre ich sie lachen. Und als ich aussteige, erkenne ich den Grund: Eine Gruppe von 6, 7 Frauen, alle in Burka, wartet auf sie und nimmt sie mit lautem Stimmengewirr und unter viel Gelächter in Empfang.

Und ich? Ich betrachte die gutgelaunte Frauengruppe mit Wohlwollen und gehe dann lächelnd meines Weges.






2018 im Brugger General-Anzeiger: