Schleier-Haft
Sie sitzt mir vis-à-vis
und hat die Augen gesenkt.
Die Fahrt nach Bern
dauert eine Stunde ohne Zwischenhalt. Ich starre die Frau immer
wieder heimlich an und mache mir meine Gedanken über sie.
Wohin sie wohl unterwegs
ist ohne männliche Begleitung? Vielleicht zu Verwandten? Eine
Touristin kann sie ja nicht sein. Alleine in einem – zumal
westlichen – Land unterwegs zu sein, ist sicher ein Tabu, ebenso
wie das Autofahren und das Entblössen nur schon der Haare.
Jetzt streicht sie sich
mit einer Hand über das Gesicht, und dabei sehe ich, dass ihre
Fingernägel rot lackiert sind. Also legt sie offenbar Wert auf ihr
Aeusseres, obwohl sie sich der Oeffentlichkeit nur in diesem
schwarzen Umhang zeigt. Ich sehe auch, dass sie die schönen dunklen
Augen geschminkt hat. Vielleicht hat sich ihr Mann in diese Augen
verliebt. Mehr konnte er vor der Hochzeit ja nicht sehen von ihr. Und
dann war die Falle zugeschnappt.
Aber
andererseits: Sie
hatte ja wohl nicht einmal eine Wahl, musste den Mann nehmen, den
ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Scheidung gibt es ja in
diesen arabischen Ländern nicht – zumindest nicht vonseiten der
Frau.
Ich
würde mich nie in schwarze Tücher hüllen wollen, denke ich, wo
doch die Welt so farbig ist!
... Oder? ...
Fast eine Stunde sitzt
mir diese Fremde praktisch regungslos gegenüber. Sie wirkt dabei
ganz ruhig und entspannt. Liegt das an ihrer Verschleierung? Bedeutet
die Verhüllung vielleicht für sie nicht Einschränkung sondern
Freiheit? Könnte eine Burka mich vielleicht auch irgendwie befreien?
Von dem Zwang, gut aussehen zu müssen, eine bestimmte Position zu
markieren, im Wettbewerb zu bestehen, mich anzupassen? Das macht
zeitweise auch einsam, seufze ich innerlich.
Die Frau hebt den Blick
und lächelt mich an. Der Zug hält. Gemessenen Schrittes geht sie
vor mir her zum Ausgang. Dann höre ich sie lachen. Und als ich
aussteige, erkenne ich den Grund: Eine Gruppe von 6, 7 Frauen, alle
in Burka, wartet auf sie und nimmt sie mit lautem Stimmengewirr und
unter viel Gelächter in Empfang.
Und ich? Ich betrachte
die gutgelaunte Frauengruppe mit Wohlwollen und gehe dann lächelnd
meines Weges.